Heute hier, morgen da

Nur wer umzieht, macht Karriere: Mobilität zählt heute zu den Schlüsselqualifikationen in der Arbeitswelt. Das menschliche Grundbedürfnis nach sozialer Bindung wird derweil vertagt: irgendwann in zehn Jahren vielleicht...

„Wir brauchen Heimat und Bodenhaftung“

Waren es nun zehn oder fünfzehn Umzüge? Ingo Nommsen ist sich auf Anhieb nicht ganz sicher. „Ein gutes Dutzend auf jeden Fall“, meint der 31-jährige TV-Moderator. Schon als kleiner Junge musste er immer wieder seine gewohnte Umgebung verlassen. Der Grund: Für seinen Vater, einen Bundeswehroffizier, waren die häufigen Wechsel beruflich notwendig. „Also nahm er uns selbstverständlich alle mit: meine Mutter, meinen Bruder und mich“, sagt Nommsen. Nürnberg, Bayreuth, Weiden, Hannover, Murnau – das Aus- und Einziehen entwickelte sich zur familiären Routine. Heute lebt Nommsen in München, doch so richtig sesshaft geworden ist er noch immer nicht. Für seine Moderationen beim ZDF („Volle Kanne“) verbringt er zwei Wochen pro Monat in Düsseldorf. Hinzu kommen weitere Jobs, verstreut über ganz Deutschland. Heute hier, morgen da.
Wurde Mobilität vor zwanzig Jahren nur für bestimmte Berufsgruppen vorausgesetzt, ist sie heute bereits Norm für die Mehrzahl der Arbeitnehmer. Nur wer Bereitschaft zur Veränderung zeigt, macht Karriere, so wird suggeriert. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes steigt die Umzugshäufigkeit junger Menschen spürbar an. Die gewohnte Umgebung zu verlassen wird zur Normalität. Zu den Gefahren dieser Entwicklung äußerte sich inzwischen auch Bundespräsident Johannes Rau: „Menschen sind nicht so mobil und nicht so bindungslos wie Kapital. Wir brauchen Heimat und Bodenhaftung“, gab er in seiner „Berliner Rede“ zu bedenken.

Heimat ist kein stabiler Ort

„Das neue Menschenbild, das uns entgegenspringt, ist: stets mobil, flexibel und anpassungsbereit“, beobachtet Professor Heinrich Kneupp, der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Sozialpsychologie lehrt. „Man darf sich jedoch nicht beliebig von externen Prozessen der Wirtschaft steuern lassen“, betont er. Nach Kneupps Ansicht ist es durchaus hilfreich, Heimat nicht länger als stabilen, unveränderbaren Ort zu betrachten. Diese Deutung sei definitiv Vergangenheit. „Heimat ist kein Besitzstand, sondern eine aktive Gestaltungsform. Am besten, man klammert sich nicht daran fest und bestimmt selbst, wo die individuelle Heimat ist.“
Mobilität als Chance? Einerseits schon. Doch der Professor weiß, dass es nicht einfach ist, sich den Zwängen der modernen Leistungsgesellschaft zu widersetzen. Viele Menschen haben keine Wahl: Sie müssen ihre Heimat verlassen und werden nirgendwo richtig heimisch.

Am Fenster über dem Spielplatz

Ingo Nommsen erinnert sich noch heute an eine bezeichnende Situation: „Ich bin etwa fünf Jahre alt und stehe am Fenster in irgendeiner Wohnung. Unten auf dem Spielplatz sind Kinder. Ich will zu ihnen, traue mich aber nicht, weil ich neu dort bin und keine Freunde habe.“ Keine Wurzeln zu haben, immer wieder von vorn beginnen zu müssen ist besonders für Kinder hart. Sie entwickeln eine intensive regionale Bindung. Die Straße, der Spielplatz, die Schule – all das ist extrem wichtig. Haben sie sich eingewöhnt, folgt oft schon der nächste Umzug, begleitet von enormen Berührungsängsten. „Im Laufe der Jahre und nach vielen weiteren Umzügen wurde es allerdings besser“, erzählt Ingo Nommsen. Bereut er zurückblickend diese Zeit? „Nein, denn es war ja trotzdem aufregend, neue Städte und Landschaften kennen zu lernen. Außerdem habe ich gelernt, unbeschwert auf Leute zuzugehen und schnell Kontakte zu knüpfen.“ Eigenschaften, die dem TV-Moderator in seinem Beruf sehr nützlich sind.
„Eine weniger tiefe Verortung muss sich nicht zwangsläufig negativ auswirken“, meint Heinrich Kneupp. Bei bestimmten Menschen könne der Wechsel sogar zu sozialer Kompetenz führen. „Wer in viele Kulturen eintaucht, hat oft einen weiteren Horizont und kann einen lokalen oder regionalen Provinzialismus besser reflektieren. Auch mit Veränderungen können diese Menschen oft besser umgehen.“ Doch Vorsicht! Die alleinige Anpassungsbereitschaft an Märkte bringt in aller Regel keine Verbesserung, da sie nur nach Profitgesichtspunkten ausgerichtet ist und nicht nach menschlichen Bedürfnissen. Die Basis für langfristige Bindungen und Beziehungen ist in vielen Fällen dahin.

Der mehrmalige Verlust von Heimat wirkt sich auf die Identität aus

Umzugskisten, kahle Wände, leere Regale. Allein sein, sich fremd fühlen. Ohne Zweifel frustrierende Eindrücke, die Menschen verändern können. Fehlt eine tiefe Verankerung in der Nachbarschaft, in Vereinen, bei der Arbeit oder in der Schule, geht ein Stück Lebensqualität verloren. Schlimmer noch: Der mehrmalige Verlust von Heimat wirkt sich auch auf die Identität und den Charakter aus, wie der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem Buch „Der flexible Mensch“ beschreibt: „Der kurzfristig agierende Kapitalismus bedroht besonders jene Eigenschaften, die Menschen aneinander binden und dem einzelnen ein stabiles Selbstgefühl vermitteln. Charakter drückt sich durch Treue und die Verfolgung langfristiger Ziele aus. Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert?“ Sennetts Beobachtung: Viele Arbeitnehmer befürchten, ihre innere Sicherheit zu verlieren und in einem Zustand des Dahintreibens zu geraten. „Soziale Bindung entsteht am elementarsten aus einem Gefühl gegenseitiger Abhängigkeit. Doch nach den Losungen der neuen Ordnung ist Abhängigkeit eine Sünde“, warnt der bekannte Soziologe.

Menschen sind nicht wie Kapital

Aussortiert, abgeschoben, gefeuert. Mobilitätszwang schien typisch für die Computer-, IT- und Medienbranche. Heute wird der Firmen- und Wohnortwechsel in nahezu allen Bereichen des Arbeitsmarktes vorausgesetzt. Eine steigende Zahl von Freiberuflern, Selbstständigen und Subunternehmern muss Aufträge annehmen, wo auch immer. Wie Pflanzen werden Millionen Menschen ständig umgetopft. Allein nach München ziehen jedes Jahr rund 95000 Menschen – und 80000 BewohnerInnen verlassen die Stadt im gleichen Zeitraum. Ist die mobile Gesellschaft eine entwurzelte Gesellschaft?

„Da kann man nicht pauschal behaupten“, meint Sozialpsychologe Kneupp. „Dieses konservative Denken, dass man wie ein Baum ganz tief verwurzelt sein muss, teile ich nicht.“ Doch es gebe Ausnahmen: Wer keine Wahl habe und sich den wirtschaftlichen Zwängen unterwerfen müsse, leide unter der unfreiwilligen Flexibilität. Wenn das soziale Netz weggezogen wird, stürzen viele Menschen ab.

Und was passiert mit Werten und Traditionen? „Sie gehen im hochtourigen Veränderungsprozess, den wir zur Zeit haben, teilweise verloren. Aber das war schon immer so. Auch das Lebensgefühl der Bayern ist nur durch viele verschiedene Einflüsse und Veränderungen über Jahrhunderte entstanden. Musealisierung tut keiner Kultur gut“, behauptet Kneupp.

Nur Hinterwäldler bleiben immer

Immer am gleichen Ort zu bleiben wird inzwischen häufig mit Hinterwäldlertum gleichgesetzt. Doch es ist wichtig, für seine eigene Lebensform zu kämpfen, auch wenn sie nicht als trendy eingestuft wird. Ingo Nommsen hatte einesTages genug von den vielen Umzügen. Als seine Eltern von Murnau nach Hammelburg aufbrechen wollten, blieb er – damals Anfang 20 – sesshaft. „Ich hatte einfach keine Lust mehr, wieder alle Kontakte abzubrechen, und wollte endlich mal länger bleiben“, sagt der Moderator. Doch nach nur drei Jahren kam er für sein Journalistik-Studium nach München, wo er seit sieben Jahren lebt. „Heimat ist heute für mich mein Lebensmittelpunkt, meine Wohnung in München. Ein bißchen auch Murnau, aber mit den Jahren geht der Bezug verloren.“ Zu seinem Geburtsort Nürnberg hat er ebenfalls keine enge Bindung. Doch ins Fränkische kommt er immerhin noch regelmäßig, um Teile der weit herum gereisten Familie zu besuchen.

Heimat – das ist auch ein Geflecht aus Beziehungen, das man ohne konstanten Lebens- und Arbeitsbereich kaum aufbauen kann. „Freunde aus Kindergartenzeiten oder frühen Schultagen habe ich eigentlich überhaupt nicht“, meint Ingo Nommsen. „Nur einige Kumpels aus der Jugendzeit kenne ich noch, aber der Kontakt lässt nach. Der Großteil meiner Freunde lebt in München.“ Soziologe Richard Sennett beschreibt in seinem Buch, welchen Nebeneffekt die Flexibilisierung haben kann: „Eine der unbeabsichtigten Folgen des modernen Kapitalismus ist die Sehnsucht der Menschen nach Gemeinschaft.“ Eine These, die Ingo Nommsen bestätigt: „Ich habe schon die klassische Vorstellung von einer Familie und einem schönen Haus irgendwo zwischen München und den Bergen.“ Doch er bleibt realistisch: Frühestens in zehn Jahren, so glaubt er, könne es so weit sein.

Günter Keil